Dokumentation: Das Kies und die Blumenstraße, Siedlungen an der Rems
Fundstücke aus der Winterbacher Geschichte (14)
Für die beiden Winterbacher Siedlungen an der Rems, nämlich das historische „Kies“ und die Reichsheimstättensiedlung „Blumenstraße“ wurde eine ausführliche Dokumentation erstellt. Dieser Beitrag ist um das Thema „Der Remstal-Kanal“ der den Rhein über den Neckar, das Remstal und die Schwäbische Alb mit der Donau verbinden sollte, ergänzt worden.
Nachfolgend die Zusammenfassung des Teilthemas „Die Blumenstraße“, das von Elke Stiller bearbeitet wurde. Die Berichte „Kies“ und „Remstal-Kanal“ folgen in den nächsten Monaten. Jürgen Rieger
Die Geschichte der Blumenstraße
Die kleine, an der Rems gelegene Blumenstraße hat eine eigene, durchaus bemerkenswerte Geschichte. Sie beginnt 1932 mit dem Beschluss des Gemeinderats, erwerbslosen Familien das sumpfige Gelände zu „günstigen Bedingungen“ als Baugebiet zu überlassen. Bis dahin war das Gewand Mühlwasen Almendland der Gemeinde, das für wenig Geld gepachtet werden konnte und als Weideland genutzt wurde.
Zur Anfangsfinanzierung diente ein kleines Darlehen von 5.000 RM, das den Familien gewährt wurde, um Arbeit und Wohnraum zu schaffen. Nach 1933 wurde aus dieser Maßnahme eine solche nach dem Reichsheimstättengesetz und solche „Reichsheimstätten“ wurden ab 1933 in ganz Deutschland gebaut. In Winterbach aber sprach man nur von der „Siedlung“ und ihre Bewohner waren „die Siedler“. Der inzwischen verstorbene Karl Müller, der die Anfänge der Blumenstraße noch als Kind miterlebt hatte, erinnerte sich:
„Ich wurde in der Schule immer nur der ‚Siedlungsmüller‘ genannt. Unsere Familien waren ja alle nicht reich und zum großen Teil arbeitslos. Alle Bauherren waren verpflichtet, die Baugruben auszuheben und den Handwerkern zu helfen; unsere Väter mussten die Steine schleppen, den Beton mit der Schaufel anmachen und den Maurern bringen. Bei diesen Arbeiten haben sich die Siedlungsleute gegenseitig in kleinen Gruppen geholfen. Die Grundstücke waren mit durchschnittlich 6 ar sehr groß, denn sie sollten den Familien den Lebensunterhalt sichern. Entsprechend war die Bauweise: Die Hälfte der Hausbreite nahm die Scheune ein, die in ganzer Höhe bis zum Dach reichte. Hinter der Scheune war der Stall für die Kleintierhaltung, zu der man verpflichtet war. Zum Wohnen blieb nicht viel Platz. Der Garten musste zum Gemüseanbau genutzt werden. Die Häuser waren außen noch nicht verputzt und innen noch nicht tapeziert, da waren sie schon bewohnt.“
Zwar war mit dieser Maßnahme die größte Not der Siedlerfamilien gelindert, aber es gab doch Grund zu klagen, wie eine Eingabe der Bewohner am 29.April 1935 beim Oberamt Schorndorf zeigt: „Man kann uns nicht zumuten, noch weiter in Schmutz und Morast zu waten, wenn wir von unseren Gebäuden aus die Straße oder von der Straße zu unseren Gebäuden gehen wollen, sondern wir müssen fordern, dass seitens der Gemeinde Winterbach die längst in Aussicht gestellte, so sehr nötige chaussierte Straße entlang unserer Gebäude hergestellt wird. Die Herstellung der Straße würde wirklichem Notstand abhelfen. Denn in den straßenlosen Gebäuden wohnen Arbeiter, die täglich von Winterbach nach Stuttgart und Schorndorf zu ihrer Arbeitsstelle fahren, zuvor aber…durch Schmutz und Morast waten müssen und infolgedessen überaus beschmutzt an ihrer Arbeitsstelle ankommen; … es ist für die Anwohner bei nasser Witterung unmöglich, sonntags in die Kirche zu gehen, da sie ihren Sonntagsanzug derart beschmutzen müssten, dass sie sich nirgends mehr sehen lassen könnten.“
Gegen Kriegsende wurden die sog. „Behelfsheime“ gebaut. Das Grundstück Blumenstraße 21 konnte die Familie Gramm erwerben. Italienische Kriegsgefangene mussten damals die Baugruben ausschaufeln. „Unser Grundstück“, so die inzwischen verstorbene Frau Gramm, „wollte eigentlich niemand haben, weil es an zwei Wasserläufen lag, denn hier mündete der Mühlbach in die Rems. 1956, beim großen Winterbacher Hochwasser, floss der Mühlbach noch offen. Durch den gewaltigen Rückstau überflutete er nicht nur die Keller, sondern das Wasser griff auch noch die Tapeten an, so dass wir sie mit Stecknadeln feststecken mussten, bis alles wieder abgetrocknet war. Nur unsere Kinder fanden das Hochwasser ganz toll und ruderten mit dem Badzuber durch den Garten.“
Die Häuserreihe der „kurzen Blumenstraße“, wie sie von den Anwohnern genannt wird, verläuft nicht mehr in West-Ost-Richtung, weil inzwischen die Uferstraße entstanden war und so die Blumenstraße nach Osten abriegelte. Deshalb hat die Blumenstraße ihren charakteristischen rechtwinkligen Knick erhalten, so dass die „Behelfsheime“ in Nord-Süd-Richtung verlaufen. Sie enden am „Musikhäusle“.
Wie die Blumenstraße zu ihrem Namen kam: Obwohl die Auflagen streng waren und intensive Nutzung der Gärten vorsahen, blieb doch Raum für ein Meter breite Blumenrabatten entlang der Straße und dem Zugangsweg zum Haus. Die Frauen standen in gut nachbarschaftlichem Austausch miteinander; sobald es einer gelang, an eine neue Pfingstrose oder sonstige Staude zu kommen, wurde diese sogleich vermehrt und weitergegeben, so dass alle Anwesen über prächtig blühende Rabatte verfügten. Der damalige Gemeinderat und stellvertretende Bürgermeister Karl Nachtrieb war so beeindruckt, dass er für die Siedlungsstraße den Namen „Blumenstraße“ vorschlug.
Heute hat die Blumenstraße durch Neu-, An- und Umbauten ihr charakteristisches Aussehen aus der Siedlerzeit verloren. Auch die intensive kleingärtnerische Nutzung wurde aufgegeben. Dennoch sorgen die mit 600 qm recht großen Grundstücke für unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten vom Ziergarten über Gemüseanbau bis hin zum Bauerngarten, so dass die Blumenstraße ihren Namen noch immer zu Recht trägt. Elke Stiller