Das „Brunnemale“ oder ein nackter heidnischer Gott auf dem Marktbrunnen

Der Marktbrunnen hieß an seinem alten Standort auf der Unteren Brunnengasse (vor dem heutigen Kreissparkassengebäude) bis zur Verleihung des Marktrechtes im Jahr 1863 Fleckenbrunnen. In den Jahren 1974/75 wurde der Marktbrunnen auf den Marktplatz versetzt.

Erstmals ist der Fleckenbrunnen auf der Kieser’schen Ortsansicht aus dem Jahr 1685 dargestellt.

Die Brunnenfigur beschreibt Adolf Schahl im Band 2 „Denkmäler des Rems-Murr-Kreises“ von 1983 wie folgt:

Auf Postament bäuerliche Figur eines Neptun mit Delphin, in der Rechten einen schmiedeeisernen Dreizack, in der Linken einen Schild, auf dem „WB 1781“. Also stammt der Neptun, die Winterbacher nannten ihn liebevoll das „Brunnemale“, aus dem Jahr 1781. Nach einer Beschädigung im Jahr 2014 wurde dieses durch ein neues ersetzt. Das renovierte alte Brunnemale steht jetzt gegen Schlagregen geschützt im Dorf- und Heimatmuseum.

`s alte Brunnemale im Museum

Der römische Gott Neptun war ursprünglich der Gott des Wassers, später auch der Gott der Meere. Er wird oft mit dem Dreizack und/oder einem Delphin dargestellt. Mit dem Dreizack konnte er Felsen spalten und Quellen entspringen lassen. Die im Wasser lebenden Delphine waren ihm heilig.

Aber warum steht ein nackter heidnischer Gott auf dem Winterbacher Marktbrunnen? In katholischen Gegenden werden Quellen und Brunnen oft mit Heiligen verbunden. Aber Winterbach war 1781 sicher eine fast ganz evangelische Gemeinde, ein Heiliger konnte es deshalb eher nicht sein. Die Renaissance (Kunst- und geistesgeschichtliche Epoche zwischen etwa 1400 und 1620) hatte die Wiederbelebung antiker Kunst und Gedanken zum Ziel, aber 1781 war nicht die Zeit der Renaissance.

Und warum hat man nicht eine verehrungswürdige Person, einen Fisch oder beispielsweise den Erzengel Michael genommen? In Augsburg ersetzte man 1537 eine Brunnenfigur auf dem Fischmarkt, die den heiligen Bischof Ulrich darstellte, durch die Figur des antiken Wassergottes Neptun. Man hat damit in der gemischtkonfessionellen Reichsstadt mit dem religiös neutralen Neptun einen Kompromiss gefunden. Vielleicht war es in Winterbach so ähnlich und man hat durch den Neptun als Brunnenfigur, statt beispielsweise eines Herrschers oder eines Glaubensmannes, einen Streit vermieden, auch wenn es ein kleiner nackter heidnischer Gott geworden ist. Jürgen Rieger